Helga Meister

Porträt von Gudrun Kemsa
Auf der Achterbahn im Reichstag

Gudrun Kemsa ist seit zwei Jahren Professorin für "Bewegte Bilder und Fotografie" an der Hochschule Niederrhein in Krefeld. Der Lehrstuhl scheint eigens für sie geschaffen zu sein, denn selbst fürs Foto "reißt" sie die Kamera.

Die 42-jährige Düsseldorferin hatte bei Karl Bobek und David Rabinowitch an der Kunstakademie Düsseldorf studiert, bei zwei Bildhauern also, die sich stets um Räume kümmerten und nicht ums plane Oberflächenbild des Fotos. Sie bewunderte die Zeichnungen romanischer Kirchen, mit denen Rabinowitch in den 70er- Jahren auf sich aufmerksam gemacht hatte. So wurde auch ihr Thema die Architektur, wenn auch mit der Kamera erstellt und nicht selbst gebaut.

Ob in Rom oder Venedig, Düsseldorf oder Berlin, immer setzt sie sich mit Licht, Raum und Bewegung auseinander. Sie fotografiert öffentliche Räume, Plätze und Gebäude. Sie ist fasziniert, wie das Licht die Architektur zerfrisst und auflöst. Sie setzt unterschiedliche Lichtquellen ein, sodass das Oberlicht mächtig durch die Kuppel einer Kirche rauscht, aber gleichzeitig durch Gegen- und Seitenlicht gestört wird. Solche Bilder sind voller Atmosphäre und ersetzen die Schärfe durch malerische Qualitäten. Eine schmale dunkle Gasse in Genua gewährt den Durchblick auf ein gewaltiges Gegenlicht, das sich hereindrängt.

Sie benutzt eine Panoramakamera mit schwenkbarem Objektiv, die sich um 120 Grad dreht, sodass sie eine Szene im Winkel von 120 Grad aufnehmen kann. Sie bewegt ihren Körper beim Aufnehmen und hält die Kamera mit offenem Verschluss in der Hand. Ihre Kunst besteht darin, aus den verschiedenen Mit- und Gegenbewegungen ein Bild zu schaffen. "Man muss das Bild in der Bewegung treffen," sagt sie. Das ist insofern eine Kunst, als sie die Bilder sehr präzise komponiert.

Die rote Scheibe über der Säule in einer U-Bahn war vermutlich eine Lampe. Gudrun Kemsa stand am Eingang, hatte also das Tageslicht vor sich, aber aufgrund der verschatteten Architektur auch künstliches Licht. Die Menschen bewegt sie mit ihrer Kamera "weg", indem sie sie beim Reißen der Kamera verwischt, nur wenige Figuren bleiben im Bild. Eine rot gekleidete Frau im Berliner Reichstagsgebäude etwa, sie wirkt wie von einer Zentrifuge an den Rand geschleudert. Tatsächlich lehnt sie am Geländer und erscheint auf dem Foto, als kreise sie auf einer elliptischen Achterbahn um die Kuppelmitte. Das Geländer wird gleichzeitig zur Gleitschiene oder Rutschbahn, die sich verselbstständigt.

Licht und Schatten
Besonders brillant in den Farben und in der Komposition ist ihr "Potsdamer Platz 10". Die Szene spielt am Aufgang einer Rolltreppe, die von unten und seitlich beleuchtet ist. Was da empor steigt, ist wie ein dreifaches Lichtband, strukturiert durch die tatsächlichen Rolltreppen, aber minimal auseinander driftend, dank der Kamera-Bewegung. Die Lichtbrechungen durch Reklametafeln in den umliegenden Läden, die Spiegelungen entfernter Lampen, die eingelegten blauen Leuchtplatten im boden, die Reflexe beleuchteter Aufzüge und Lampen im Hintergrund und insgesamt der Tiefensog der Raumstücke bei gleichzeitiger Breitenwirkung des Panoramaformates, all das ist faszinierend. Die Balance der divergierenden Kräfte sorgt letztlich für eine geradezu klassische Komposition.

Als sie am Ende ihrer Studien überlegte, ob sie wenigstens einige Semester in der Fotoklasse belegen sollte, sagte ihr Bernd Becher, sie müsse bei bedecktem Licht arbeiten. Darum geht es ihr aber gar nicht, sondern im Gegenteil um Licht und Schatten. Eine Säule etwas, in der Villa Massimo, wirkt nicht wie fest gemauert in der Erde, sondern dient als Schattenspenderin. Und mithilfe der rotierenden Kamera wirkt der Schatten wie die Liniatur einer Sonnenuhr. Das Foto erscheint wie ein Farbgemälde, es erinnert an Italienbilder von Ulrich Erben, der sich häufig in dieser Villa aufhält.

Farbe, Licht, Bewegung und Raum sind ihre Bild-Akzente. Die Gegenstände selbst aber sind verwischt und nur Mittel zum Zweck einer Stimmung. Der Schatten des Baumes, eines Laternenpfahls oder einer Säule ist wichtiger als der Baum, der Pfahl oder die Säule. Der Schatten ist ein Gestaltungselement, er macht den sommerlich hellen Hof zu einem Trapez, indem seine schwarzen Flächen dem bloßen Licht eine dunkle Form an den Rand geben. Die Überblendung erzeugt neue Farbkonstellationen.

Im Gegensatz zu Becher liebt sie gen grellsten Sonnenschein und die heißeste Tageszeit, wenn die Stadtlandschaften von der Helligkeit aufgefressen werden und die Konturen verloren gehen. Dann wir der Farbklang zur Grundlage eines Bildes, blühen die mediterrane Orte mit Garten und Portikus geradezu auf, flimmern vor Energie. Die Farbe entgrenzt die spätbarocken Hecken, die Kolonnaden, die Gärten, die Passagen unter dem Potsdamer Platz, die Nationalbibliothek in Paris.

Sie ist eine begeisterte Skaterin, sie flitzte erst vor wenigen Wochen mit 3000 Leuten durch Düsseldorf. In den Fotos wird der Asphalt der Straßen, das Pflaster der Bürgersteige zu einem verwischten, doch gleichmäßigen Boden, auf dem jedes Spiel aus Drehen und Schwenken stattfinden kann.

Seit drei Jahren arbeitet sie mit einer Gruppe von Künstlerinnen, mit Monika Pirch, Anke Landschreiber und Myriam Thyes inter dem Motto "Strictly Public in U-Bahnstationen." Kunst, wie Gudrun Kemsa sie versteht, handelt nicht nur vom öffentlichen Raum, sondern kehrt dorthin zurück.

Lit.: Düsseldorfer Hefte, 7/2003